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Das Hellwigsche Kriegsspiel

Unternehmensstrategie, Wahlkampfstrategie, Persönliche Lebensplanung – so allgegenwärtig und selbstverständlich wie der Begriff der Strategie in unserer Gesellschaft heute vorkommt, so spannend ist der Versuch, ihn zu verstehen. Ein dauerhaftes Element in der Geschichte des Strategischen ist das Spiel – beispielsweise das 1780 von Johann Christian Ludwig Hellwig entworfene Kriegsspiel "Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen". Die Rekonstruktion des über 200 Jahre alten Spiels erlaubt Aufschlüsse über die Didaktik des Spiels, die Bedeutung des strategischen Denkens und die Aktualität des "Kriegs am grünen Tisch".

Ausschnitt Hellwigsche Kriegsspiel

Die Landschaft des Spielbrettes ist dicht gefüllt: Nicht nur, dass ein Labyrinth von Flüssen, Wäldern, Bergen und Dörfern die Landschaft zwischen den beiden tief verschanzten Festungen füllt – es drängen sich auch schier unüberschaubare Massen von Infanteristen und Kavalleristen, Artilleriestellungen mit Bedienmannschaften, aufgeworfene Verschanzungen und mit Pontobrücken beladene Wagen auf dem Feld. An den Stellen, an denen sich die aufmarschierenden Armeen gegenüberstehen, verlieren sich die Figuren und die Ordnung der gegliederten Linien, und ein Tumult von Einzelkämpfen wird sichtbar. Vor unserem Auge entfaltet sich aber nicht die Schlacht bei Waterloo, sondern das Kriegsbrettspiel Johann Christian Ludwig Hellwigs.

Das Braunschweiger Kriegsspiel, entworfen als kostengünstige Kriegssimulation zur Ausbildung des militärischen Nachwuchses, wurde um 1780 im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Braunschweiger Pagenschule von dem Mathematiker und Entomologen Johann Christian Ludwig Hellwig entwickelt und als Buch veröffentlicht ("Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen"). In der Spielanleitung spiegeln sich insbesondere die Elemente Spielstärke, Mobilität und Effektivität wider. Die Spielfiguren wiederum dienen als Platzhalter für Infanteriebataillone, Kavallerieeskadrone oder Artilleriebatterien. Das Spielbrett selbst stellt variable, unterschiedliche Geländeformen dar und kann mithilfe von Brustwehren, Brücken oder brennenden Gebäuden variabel gestaltet und fiktiven wie realen Geländeformen angepasst werden.

Konzentriert stehen die Spieler um das Brett herum: Je zwei ziehen die Figuren der beiden Parteien, ein Spielleiter achtet auf die Regelgerechtigkeit der Züge und Aktionen. Flüsternd beraten sich die Spieler: Was soll als nächstes geschehen? War die Ausgangsaufstellung optimal? Ist es Zeit, die zurückgehaltenen Reserveeinheiten nach vorne zu führen, soll man einen Umgehungsvorstoß über die Flanken wagen oder lieber die direkte Konfrontation suchen? Jeder Zug bedarf gründlicher Überlegung. Es gilt langfristige Strategien zu entwickeln, die Bewegungen und Ziele des Gegners abzuschätzen und vor allem die eigenen Pläne möglichst nicht zu früh offensichtlich werden zu lassen. Die Vielzahl der Regeln und die generelle Logik des Spiels lassen es kaum zu, es schnell und ›ohne Rücksicht auf Verluste‹ zu spielen. Wer seine Armeen frontal auf die des Gegners prallen lässt, tauscht mit diesem Zug für Zug Figuren – am Ende sind beide Armeen eliminiert und das Ziel, die generische Festung zu erobern oder dauerhaft zu belagern, ist dem Angreifer genauso fern wie zu Beginn des Spiels.

Die gesamte Philosophie des Spiels nötigt seine Spieler, den Gegner strategisch und taktisch auszulavieren, weniger auf Figurennahme hin zu arbeiten als auf geschickte Raumnahme, auf überlegene Bedrohungssituationen hin zu planen, die den Gegner zum Zurückweichen zwingen. Kurz gesagt, wer im Hellwigschen Spiel besser mittel- und langfristig vorausplant und vorausschaut, der wird auch gewinnen. Das Hellwigsche Spiel ist ein Kriegsschachspiel, das den strategischeren Denker gewinnen lässt und  seine Spieler zu Strategen macht. Damit treffen im Braunschweiger Kriegsspiel zwei Funktionen aufeinander, die zwar auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, die aber dennoch über die Jahrhunderte oft zueinander gefunden haben: das spielerische Handeln und das strategische Denken. Zwar ist uns der Genrebegriff des Strategiespiels geläufig, nur selten aber denken wir darüber nach, wie sich eigentlich die Momente des Spiels und der strategischen Planung miteinander verbinden. Vom Schach bis zu heutigen Spieltiteln wie StarCraft, Civilization oder Stratego ist es ein langer Weg, dessen Untersuchung nicht nur Aufschluss über die Spiele selbst gibt, sondern auch die Rolle des Strategischen in der Gesellschaft beleuchtet. Denn "Unternehmensstrategien", "Wahlkampfstrategien" oder "Persönliche Lebensplanung" zeigen, wie allgegenwärtig und selbstverständlich der Begriff der Strategie in unserer Gesellschaft heute vorkommt: Strategie bezeichnet ein systematisches Vorgehen, ein langfristiges Planen im Gegensatz zur kurzfristigen Taktik.

Der 227 Jahre nach seiner "Erfindung" ebenfalls in Braunschweig durchgeführte Nachbau des Spiels ist daher nicht nur von rein historischem Interesse. Es ist uns auch wichtig, das "Gefühl", ein solches Spiel zu spielen selbst erfahren zu haben, und im eigenen Spielen erlebt zu haben, wie ein didaktisches Prinzip über zwei Jahrhunderte hinweg immer noch seine Wirkung entfaltet. Während wir in stundenlangen Spiel-Sessions versucht haben, der Logik des Spiels zu folgen, haben wir aber eben nicht nur etwas über das Denken auf den Feldherrenhügeln des 18. Jahrhunderts gelernt, sondern vielleicht auch – viel abstrakter – ein Wissen angeeignet, das ebenso im 21. Jahrhundert anwendbar ist.

Spiele sind eben nicht nur Spiele, sondern auch Werkzeuge, die zur Ausbildung in Bereichen wie Management, Militär, Planung, Steuerung oder Sportschulung eingesetzt werden. Neben den Aspekten des Spielerischen wird also vor allem eine grundlegende Denkweise trainiert, nämlich dass komplexe ökonomische, militärische und politische Prozesse eine effiziente und rationale Steuerung brauchen. Dass uns die Vorstellung des ständigen Trainings aller möglichen Vorgänge auf trügerische Weise selbstverständlich vorkommt, ist wiederum selbst das Ergebnis einer langen Geschichte der Affektkontrolle und Selbstdisziplinierung. Spiele sind dabei gleichermaßen Teil als auch Ergebnis dieser Geschichte. In unserer historischen Fallstudie wollen wir daher auch Aufschlüsse über heutige Spiele gewinnen und verstehen, wie Strategiespiele als Kulturtechnik immer schon einen wichtigen, da zentralen Bestandteil einer Gesellschaft gebildet haben.

Ausführlichere Darlegungen zum Hellwigschen Spiel finden sich in:

Rolf Nohr, Stefan Böhme